Tagung 2026: "Was prägt die deutsche Sprache?"
Zum Verhältnis von natürlicher Sprachentwicklung und metasprachlicher Intervention
Tagung an der Universität Würzburg vom 26.—27.03.2026
Organisation: Wolf Peter Klein, Michael Breyl, Fabienne Fulst, Vita Kraft, Linda Stark
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Was prägt die deutsche Sprache aktuell und wodurch ist sie in der Vergangenheit geprägt worden? Anders formuliert: Warum besitzt die deutsche Sprache genau die Gestalt, die sie heute aufweist? Bei der Beantwortung dieser Frage muss man zunächst die Kräfte identifizieren, die grundsätzlich den Gang jeder Sprachentwicklung beeinflussen. Sie lassen sich in zwei Felder einteilen, die den Sprachgebrauch bestimmen, die Spracherwerbsprozesse begleiten und die in der Folge zur Ausbildung einer spezifischen Spracharchitektur (Varietäten, Register) mit jeweils spezifischen Sprachsystemausprägungen führen.
Das erste Kraftfeld umfasst Prinzipien, die meistens in sprachsystematischen Perspektiven beschrieben und terminologisch als implizit, sprachinhärent, innersprachlich, unbewusst oder natürlich charakterisiert werden. Man denke beispielsweise an das Ökonomie-Prinzip (z.B. Ronneberger-Sibold 1980), das Analogie-Prinzip (z.B. Becker 1990) und verschiedene Formen von (morphologischen) Natürlichkeitsprinzipien, die häufig auf Sprachwandelprozesse bezogen werden (z.B. Nübling 52017, Fleischer 2011: Kap. 16). Auch für Grammatikalisierungsprozesse nimmt man oft Wirkungszusammenhänge (z.B. in Form syntaktischer Reanalysen) an, die einen ähnlichen Prinzipiencharakter besitzen. Spracherwerbsprozesse werden auf derselben Linie ebenfalls mit solchen Prinzipien in Zusammenhang gebracht (z.B. Clark 1993, Meibauer 2001, Tomasello 2003). Vor dem Hintergrund solcher Horizonte geht man davon aus, dass sowohl individuelle als auch überindividuelle Sprachentwicklungsprozesse nicht bewusst gesteuert werden (können), sondern sich sozusagen selbst optimieren, etwa durch den prinzipienabhängigen Auf- und Abbau von Variation bzw. Irregularität (z.B. Haider 2015, Weiß 2024). In eine ähnliche Richtung geht es, wenn man den Sprachwandel als Phänomen der dritten Art begreift, also weder als vom Menschen gemacht noch als Naturphänomen, sondern als ungeplantes Ergebnis einer Vielzahl individueller sprachlicher Handlungen, die als solche nicht auf die Veränderung der Sprache zielen (Keller 2014, Schmid 2024: Kap. 5.7). Die unterschiedlichen Formen der Mündlichkeit stehen bei solchen prinzipienorientierten Ansätzen oft im Vordergrund, weil die Lautsprache als primäre, „eigentliche“ Verkörperung von Sprache verstanden wird.
Das zweite Kraftfeld umfasst alle möglichen metasprachlichen Initiativen, durch die Sprache, ihr Gebrauch und ihre Entwicklung bewertet, kodifiziert und in der Folge womöglich in eine gewisse Richtung gedrängt wird (z.B. Fleischer 2011: Kap. 14, v. Polenz 2013, Klein 2014). Im Gegensatz zu den o.g. Prinzipien werden solche metasprachlichen Interventionen terminologisch häufig als explizit, sprachextern, außersprachlich, bewusst, künstlich, normativ oder unnatürlich charakterisiert. Prototypisch findet sich dieses Kraftfeld bei einem Blick auf die Schriftsprache (z.B. Fuhrhop 2024). Die gegenwärtige Schriftgestalt des Deutschen ist demnach das Ergebnis bewusster, metasprachlicher Interventionen mit dem Ziel der Sprachsteuerung („Orthographie-Regelungen“). Ähnliches ließe sich für den Umgang mit Fremdwörtern und registerbezogene Sprachselektionsprozesse annehmen (z.B. in der Wissenschaftssprache: Latein > Deutsch > Englisch). Die allmähliche Herausbildung der deutschen Standardsprache wird häufig unter dieser Perspektive begriffen. Konzepte wie Sprachstandardisierung, Sprachnormierung und Sprachkodifizierung setzen auf die Wirkungsmöglichkeit bewusster Sprachsteuerung. In allen gesellschaftlichen Diskursen, durch die „bessere“ Sprachzustände offensiv verwirklicht werden sollen (z.B. unter der Überschrift der politischen Korrektheit oder der Gendergerechtigkeit), wird vorausgesetzt, dass die Sprachentwicklung – zumindest rudimentär – über metasprachliche Interventionen steuerbar ist. Diese Idee lässt sich auch auf Spracherwerbsprozessen übertragen: Sowohl in mutter- als auch in fremdsprachlichen Vermittlungskontexten spiegelt sie sich im Vertrauen darauf, dass mit didaktischen Interventionen das sprachliche Handeln der Lernenden beeinflusst werden kann und dadurch Lernfortschritte zu erzielen sind. Didaktische Erfolge würden sich demzufolge im Sprachgebrauch der Lernenden niederschlagen. Vor diesem Hintergrund könnten institutionalisierte sprachdidaktische Interventionen als ein Einfallstor zur Steuerung von überindividuellen Sprachentwicklungsprozessen betrachtet werden (vgl. z.B. Knobloch 2000). Welche objektsprachliche Wirksamkeit metasprachliche Vermittlungsansätze tatsächlich haben (können), wird in der sprachdidaktischen Forschung jedoch zunehmend hinterfragt (z.B. Binanzer u.a. 2022).
Die Tagung hat zum Ziel, die möglichen Wechselwirkungen und Bezüge zwischen dem metasprachlichen Kraftfeld und dem natürlich-sprachinhärenten Kraftfeld systematisch in den Blick zu nehmen. Dies kann einerseits mit sprachtheoretisch angelegten Beiträgen, andererseits mit empirisch fundierten Analysen erfolgen. Es sind also (u.a.) Vorträge zu folgenden Fragenkomplexen und Phänomenbereichen denkbar:
- Ist die Entwicklung der deutschen Sprache steuerbar und, wenn ja, in welchem Maß und an welchen Punkten? Wie lässt sich das Verhältnis von Steuerungsinitiativen und prinzipienorientierter Sprachentwicklung theoretisch modellieren und empirisch erforschen?
- Inwiefern weisen die beiden Kraftfelder an fest umrissenen Stellen der Sprachentwicklung in Vergangenheit und/oder Gegenwart einen gleich- oder gegenläufigen Charakter auf? Bewegt sich der prinzipiengesteuerte Sprachwandel in dieselbe Richtung wie der Effekt von metasprachlichen Steuerungsinitiativen? Oder ergeben sich durch metasprachliche Aktivitäten eher Reibungen und Irritationen gegenüber den von Prinzipien angetriebenen Sprachentwicklungen?
- Welche aktuellen Variationsphänomene könnten auf welche prinzipiengesteuerten Sprachveränderungen hindeuten? Wie verhält sich der metasprachliche Diskurs zu diesen Variationsphänomenen und wie ließe er sich prinzipienorientiert charakterisieren?
- Hätte die deutsche Sprache der Gegenwart auch ohne die verschiedenen Normdiskussionen die Gestalt angenommen, die sie heute besitzt? Welche (phonetischen, graphematischen, morphologischen, syntaktischen) Phänomene lassen sich diesbezüglich näher betrachten?
- Welche Entwicklungstendenzen im Sprachgebrauch der Gegenwart oder Vergangenheit zeugen von einer erfolgreichen metasprachlichen Einflussnahme? Lassen sich Spuren solcher Erfolge bis zur Ebene des Sprachsystems weiterverfolgen?
- Welche Rolle spielen digitale Medien bei der Aktualisierung von sprachlichen Steuerungsversuchen? Könnten sich in digitalen Medien Sprachentwicklungen abzeichnen, die sich gegenläufig zum Sprachwandel in anderen medialen Umgebungen verhalten? Inwiefern hängt die metasprachliche Steuerbarkeit des Sprachgebrauchs von unterschiedlichen Kommunikationskontexten ab? Ist der Sprachgebrauch in formellen Kontexten möglicher-weise leichter steuerbar als in informellen?
- Inwiefern spiegeln sich (politische) metasprachliche Steuerungsversuche in der fachdidaktischen Debatte bzw. in fachdidaktischen Materialien? Welche Rolle spielen didaktische Interventionen bei der Umsetzung von metasprachlichen Steuerungsversuchen? Inwiefern kann der schulische Sprachunterricht als Scharnier für Steuerungsversuche verstanden werden, mit denen die überindividuelle Sprachentwicklung in eine gewisse Richtung gedrängt werden soll?
Um die Einreichung von Abstracts von max. 400 Wörtern zzgl. Literatur an vita.kraft@uni-wuerzburg.de wird bis zum 30.4.2025 gebeten.
Eine Förderung der Tagung wird angestrebt.
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LITERATUR
- Becker, Th. (1990): Analogie und morphologische Theorie. München.
- Binanzer, A. u.a. (Hg.) (2022): Implizites und explizites sprachliches Wissen und Vermitteln – Interdisziplinäre Fragestellungen – disziplinäre Zugänge. Bulletin suisse de linguistique appliquée 115.
- Clark, E. (1993): The Lexicon in Acquisition. Cambridge.
- Fleischer, J. (2011): Historische Syntax des Deutschen. Eine Einführung. Tübingen.
- Fuhrhop, N. (2024): Schriftgrammatische Perspektiven auf das Amtliche Regelwerk. In: Krome, S. u.a. (Hg.): Orthographie in Wissenschaft und Gesellschaft. Schriftsystem – Norm – Schreibgebrauch. Berlin / Boston, 43–61.
- Haider, H. (2015): “Intelligent design” of grammars – a result of cognitive evolution. In: Adli, A. u.a. (Hg.): Variation in Language: System- and Usage-based Approaches. Berlin u.a., 203–238.
- Keller, R. (42014): Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache. Tübingen.
- Klein, W. P. (2014): Gibt es einen Kodex für die Grammatik des Neuhochdeutschen und, wenn ja, wie viele? Oder: Ein Plädoyer für Sprachkodexforschung. In: Plewnia, A. / Witt, A. (Hg.): Sprachverfall? Dynamik – Wandel – Variation. Berlin / Boston, 219–242.
- Knobloch, C. (2000): Spracherwerb und Sprachwandel: Zweckehe oder gefährliche Liebschaft? In: Siegener Papiere zur Aneignung sprachlicher Strukturformen, 7, 1–14.
- Nübling, D. (52017): Historische Sprachwissenschaft des Deutschen. Tübingen.
- Meibauer, J. (2001): Sprachwandel und Spracherwerb – eine Skizze am Fall der Wortbildung. In: Bentzinger, R. u.a. (Hg.): Sprachgeschichte, Dialektologie, Onomastik, Volkskunde. Stuttgart, 147–155.
- v. Polenz, P. (22013): Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd II: 17. und 18. Jahrhundert. Berlin.
- Ronneberger-Sibold, E. (1980): Sprachverwendung, Sprachsystem: Ökonomie und Wandel. Tübingen.
- Schmid, H. U. (2024): Einführung in die deutsche Sprachgeschichte. Berlin.
- Tomasello, M. (2003): Constructing a Language: A Usage-Based Theory of Language Acquisition. Harvard.
- Weiß, H. (2024): How to explain linguistic variation and its role in language change. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 43 (1), 19–40.
